Tims Nummer habe ich von Couchsurfing. Ich treffe ihn am Donnerstagabend am Kickertisch in der südlichen Innenstadt im Keller eines Internetcafes und sogleich steht die Ehre deutscher Tischfußball-Historie auf dem Spiel. Moskau-Style spielt man eins gegen eins, das liegt mir nicht. Ich gehe gegen seinen stilleren Freund „Comrade“ Alexey 7:10 unglücklich baden (hier geht’s immer bis 10), kann Tim aber deutlich distanzieren. Das gibt Props vom Russen und anschließend eine Tour durch mir noch unbekannte Teile von Moskau Zentrum.
Ich lerne das ehemalige Verbrecher-Ghetto Hitrowka kennen, in dem vor rund 100 Jahren tausende Groß- und Kleinkriminelle untergebracht waren. Und zwei Polizisten. Meine Theorie, die Letztgenannten hätten sich wohl häufiger krank gemeldet, trifft den Kern nicht ganz: Sie waren die uneingeschränkten Könige von Hitrovka und weit vorne an der Schmiergeld-Front. „We have russian tradition…“ Heute stehen Audi und Porsche Cayenne vor den schäbigen Türen. Jede Bude im innersten der fünf Moskauer Ringe ist teuer wie in London oder Paris.
Es ist ein Uhr. Weil ich meinen letzten Bus zu Georgy nicht mehr bekommen würde, fahre ich mir zu Tim, kann bei ihm schlafen. Vorher trinken wir Vodka. Bis vier Uhr. Tim erzählt vom System Russland und Moskau, von der Politikverdrossenheit seiner Generation und sagt, dass Sozialismus und Anarchie bei näherer Betrachtung nicht die schlechteste Form von Staatssystem seien. Er ist 25, Werkstoff-Ingenieur und entwickelt zusammen mit Kollegen neue Web-Konzepte. Er kann mit Geld und Zahlen umgehen, er kann Leute von seinen Ideen begeistern. Und er hofft, dass das Land eines Tages ohne Korruption leben kann. Als er einen guten Job hatte, rund 3000 Euro im Monat verdiente, haben seine Eltern ihn gefragt, wie viel er denn nebenher noch beiseite schaffen könne. Zuerst hat er die Frage gar nicht verstanden, dann dreimal nachgefragt. Korruption und Untreue gehören zu Russland wie der Vodka.
Auch im Krankheitsfall: Wer der Rettungswagen-Besatzung nicht das entsprechende Kleingeld in den Kittel steckt, der landet im nächstgelegenen Krankenhaus – und es gibt verdammt viele, in denen will man ganz sicher nicht landen. Schon für ein paar Rubel steigen die Heilungschancen erheblich. Beim Frühstück lerne ich auch das eigentümliche russische Heizsystem kennen. Die Heizungen werden zentral gesteuert – Eigenregelung unmöglich. Ende November springen sie an, im Mai gehen sie aus. Dass es schon im Oktober friert und Anfang April 20 Grad warm sein kann, wird geflissentlich ignoriert. „Russian tradition“ halt.
Hallo MAX
AntwortenLöschenherzliche Grüße von Sabine Tötter.Sie verfolgt deine Berichte mit Interesse,Begeisterung und Schaudern (orig.Ton:"Gut,dass Julie und Johanne nicht auf solche Reise gehen.Spanien war schon weit genug!")
Liebe Grüße und scöne und interessante tage in Petersburg
MAMA
Meister,
AntwortenLöschenhabe den Laptop erfolgreich aus elterlichem Domizil entwendet, vielen Dank! Ich hoffe, er bringt Glück, schließlich verfügt er schon über Erfahrung auf dem Gebiet. Anstatt produktiv zu sein, verfolge ich allerdings den Blog und drücke bei Flaute immer mal auf "aktualisieren"!
Weiterhin viel Spaß und fordere die Russen nie in der Königsdisziplin (=Wetttrinken) heraus ---> endet u.U. in einem der schlechteren Krankenhäuser :-)
Hansen